Magersucht
Das Beispiel Magersucht ist nicht direkt einem meiner Erklärungsmodelle zuzuordnen. Ich füge es hier aber an, weil es eine häufige Begleiterscheinung der Beispiele 1 und 3 ist. Zwischen Beispiel 1 "gesunde Ernährung" und Beispiel 3 "Abnehmen durch Diät" gibt es enge Parallelen dahingehend, dass beide einen fortgesetzten Konflikt zwischen rational angestrebter Nahrungsaufnahme und körperlichem Appetit darstellen:
- In Beispiel 1 wird versucht, andere Dinge zu essen, die als gesünder angesehen werden
- In Beispiel 3 wird versucht, andere Dinge zu essen, die weniger „dick machen“
Beide Konflikte können zu dem führen, was als Magersucht bezeichnet wird, obwohl es sich dabei mitnichten um eine „Sucht zum Magersein“ handelt.
Ausgangspunkt ist der Versuch, die Ernährung nach bestimmten Regeln umzustellen ("... ist gesünder" bzw. "... macht weniger dick"). Das funktioniert aber nicht ad hoc, weil den rationalen Regeln ein zweiter Regelmechanismus zuwiderläuft: der natürlich Appetit des Körpers, der sich immer wieder einfach holt, was er gerade will. Es entwickelt sich ein Kreislauf von Versagen, schlechtem Gewissen und guten Vorsätzen, der zu 2 negativen Tendenzen führt:
- Jedes Mal, wenn der entsprechende gute Vorsatz wieder gescheitert ist, kommt es zu schlechtem Gewissen und dem Gefühl, sich durch die eigene Unfähigkeit wieder geschadet zu haben. Dieses Gefühl, sich geschadet zu haben, intensiviert sich im Laufe der Zeit immer mehr und wird zunehmend direkt mit dem Essen als solches verbunden. So hat der Betroffene irgendwann das Gefühl, dass er sich mit dem Essen an sich schadet. Es entsteht eine „Angst vor dem Essen“. Diese Angst kann sich soweit verstärken, dass Essen kaum noch oder gar nicht mehr möglich ist – aus Angst, sich wieder einen Schaden zuzufügen.
- Während am Anfang der Entwicklung nur einige wenige Lebensmittel als "ungesund" oder "Dickmacher" tabu waren, werden es im Laufe der Entwicklung immer mehr. Immer mehr Lebensmittel werden aussortiert und irgendwann stellt der Betroffene fest, dass es kaum noch Lebensmittel gibt, die er guten Gewissens essen kann.
Ich hatte ja in den Beispielen geschildert, wie der Körper auf das psychische Problem reagiert mit Unverträglichkeitserkrankungen oder einer veränderten Nahrungsverwertung. Aber Magersucht ist ein rein psychischer Mechanismus, der den beschriebenen körperlichen Effekten zuvorkommt. Die Ausgangslage ist die Gleiche, aber bei manchen Menschen gipfelt das Problem zuerst in Magersucht und bei anderen zuerst in den körperlichen Phänomenen.
Der Weg aus der Magersucht heraus entspricht der Überwindung einer Angst: Man muss lernen wieder zu essen, obwohl man das Gefühl hat, dass das eigentlich nicht gut ist. Es ist der gleiche Prozess, wie er im Kapitel "Heilung" bereits beschrieben wurde, nur dass es um ein rein psychisches Problem geht.